Das Kitzeln der Vögel

Es ist die Zeit der Vögel. Sie singen und fliegen wie sonst nie im Jahr. Raben, Spechte, Amseln, Blaumeisen, Eichelhäher, Kleiber, Baumläufer und Buchfinken sind rund um das Haus zu sehen und zu hören. Und neu habe ich die Mönchsgrasmücke entdeckt – ihr Gesang ist bezaubernd.

Es kommt mir vor, als wären die Vögel von der Schöpfung hervorgebracht worden, um die Bäume zu kitzeln und zu schaukeln. Die beflügelten Wesen haben die dritte Dimension der Wälder erobert und bewegen sich verspielt zwischen den Baumkronen und darüber. Die gefiederten Wirbeltiere sind das Gegenteil der verholzten Wurzler. Sie schätzen sich gegenseitig – der Baum beschenkt sie mit Früchten, der Vogel mit Gesang.

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(Bilder aus dem Internet)

Die grössten und scheusten Vögel im Wald sind die Kolkraben. Sie sind als Paar unterwegs, meist nur wenige Meter voneinander entfernt. Ich lege draussen neben dem Haus etwas Futter hin, und oft sitzen sie nach wenigen Minuten auf den Ästen der Lärche vor dem Haus. Sie warten geduldig, bis ich aus ihrem Blickwinkel verschwunden bin, um das grosszügige Geschenk mit ihren kräftigen schwarzen Schnäbeln aufzupicken und damit davonzufliegen.

Germanen, Indianer und Kelten verehrten diese schönen Vögel – später jedoch wurden sie bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verflucht und ausgerottet. Das liegt ihnen bis heute in den Genen. Tiere und Pflanzen vererben nicht nur das Aussehen ihrer Eltern, sondern auch seelische Erfahrungen, Freude und Ängste. Bis zu vier Generationen werden diese weitergegeben, weitergelebt. So wird das Trauma der gejagten Tiere, die Angst ums Überleben, vererbt. Auch Bäume geben Erfahrungen weiter – gespeichertes Wissen, das dem Fortbestehen ihrer Nachkommen dient. Es ist das Prinzip der Evolution.

Ihr schwarzes Gefieder, ihr markanter Schnabel, ihre stattliche Grösse, ihre Grazie, ihr soziales Verhalten und ihre Taktik berühren mich. Die verspielten, monogamen Rabenvögel lieben es, sich in der Thermik vom Wind tragen zu lassen. Imposant segeln sie durch die Luft und lassen sich dann in die Tiefe fallen, indem sie die Flügel zuklappen. Dann geben sie Laute von sich – wahrscheinlich aus Freude. Es sind die lautesten Freudenschreie des Waldes.

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